Systemrelevant

Die letzten Wochen waren eine durchgehende Achterbahnfahrt. Kurz nach der Fehlgeburt Ende Februar fing die aktuelle Krise an. Kurz darauf war plötzlich der Großteil der Menschen die ich kenne zu Hause, entweder im Homeoffice oder im völligen Stillstand. Bei mir sieht es anders aus. Ich verlasse als Einzige morgens das Haus und gehe ganz normal zur Arbeit. Mein Beruf ist „systemrelevant“.

An meinem Arbeitsplatz gibt es weder Schutzkleidung noch Masken und das obwohl wir offiziell ein Krankenhaus sind, wenn auch ein psychiatrisches. Vom Besuchsverbot war unser Haus anfangs ausgenommen, mittlerweile wurden die Regeln angepasst und alle Türen zugesperrt bis auf den Haupteingang. Die meisten Besprechungen fallen aus, in den Sekretariaten stehen Plexiglaswände, das Desinfektionsmittel wird zunehmend knapper und wird nicht nachgeliefert. Einzelgespräche führe ich aber nach wie vor und auch die wöchentliche Gruppe habe ich bisher geleitet. Der Abstand wird von allen eingehalten, die Fenster stelle ich immer auf Kipp, das gibt mir ein einigermaßen sicheres Gefühl.

Anfangs konnte ich schlecht mit der ganzen Situation umgehen. Es hat sich alles so schnell verändert, dass ich emotional nicht hinterherkam. Mein Aupair hat uns vor 10 Tagen über Nacht verlassen, buchstäblich, sie wurde gegen 3 Uhr morgens von der Familie ihres Freundes hier abgeholt. Informiert wurde ich dann um 6 Uhr morgens, kurz vor dem Aufstehen und dem neuen Arbeitstag. Die Kinder sind zum Glück schon groß genug und blieben eben alleine zu Hause. Einen Tag später dann die Ankündigung der Ausgangsbeschränkungen und ein Hopplahopp-Einzug meines zukünftigen Mannes (ja, wir wollen heiraten, denn einen besseren Zeitpunkt gibt es nicht), da wir im Falle einer möglichen kompletten Ausgangssperre nicht getrennt sein wollten.

Ich war völlig überfordert von allem und habe 3-4 Tage überwiegend weinend in der Ecke gesessen. Ich hatte Angst arbeiten zu gehen ohne Schutzausrüstung, Angst mich zu infizieren und meine Kinder und meinen Partner anzustecken, Angst vor einem völlig neuen Leben. Ich konnte nicht aufhören, die neuesten Nachrichten durchzulesen, nachts konnte ich nicht mehr schlafen bzw. wachte stündlich auf. Akute Belastungsreaktion nennt sich das in meinem Fachgebiet und die hatte ich definitiv. Trotzdem bin ich täglich arbeiten gegangen, aber mit hoher Anspannung.

Mittlerweile habe ich einen Weg gefunden, damit umzugehen. Ich informiere mich über die aktuellen Nachrichten nur noch bis spätestens mittags. Ich fahre mit dem Fahrrad zur Arbeit und gehe täglich mindestens eine halbe Stunde spazieren. Ich habe diese Woche in der Gruppe das Thema „Umgang mit Ängsten“ mit unseren Patienten besprochen. Heute habe ich zum ersten Mal seit langem wieder Seife gesiedet (lenkt ab und gleichzeitig geht uns die Seife nicht aus :-)). Ich habe endlich einen neuen Herd gekauft und freue mich täglich darüber. Es geht mir wesentlich besser und ich kann wieder lachen.

Einerseits finde ich es sehr gut, dass ich einen sicheren Job habe, im Gegensatz zu vielen anderen, auf der anderen Seite ist es unheimlich damit konfrontiert zu werden unter den letzten zu sein, die sich zurückziehen können. Arbeit werden auch wir genug haben in den nächsten Wochen und Monaten. Viele Menschen haben Angst in dieser Situation. Viele stürzen in eine Lebenskrise mit Depressionen. Und auch latente Psychosen flammen eher auf. Die Suchtstation läuft voll. Und meine Aufgabe wird es sein, die eigenen Ängste nicht ausufern zu lassen und denen Halt zu geben, die ihn dringend benötigen.

Ich wünsche allen, dass sie Wege finden, mit der neuen Situation umzugehen. Ich hoffe, dass irgendwann ein Impfstoff entwickelt wird oder wenigstens ein Medikament, das die Vermehrung des Virus im Körper etwas verlangsamt. Bis dahin weiterhin Abstand halten und Hände waschen. Und trotz allem für positive Stimmung sorgen, denn auch das stärkt das Immunsystem. Smartphone weglegen, Spazierengehen, Bücher lesen, leckeres Essen kochen, mit den Liebsten kuscheln, u.s.w. …

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